Argentinien: Regierung Milei bricht mit Erinnerungsarbeit und "Nie wieder"-Konsens

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Infotafel am Eingang einer Mahn-und Gedenkstätte
Infotafel am Eingang einer Mahn-und Gedenkstätte

Buenos Aires. In ihrem ersten halben Jahr hat die Regierung von Staatspräsident Javier Milei konsensuale Leitlinien im Umgang mit der diktatorischen Vergangenheit Argentiniens sowie der Menschenrechts- und Erinnerungspolitik ganz oder teilweise abgebaut. Das ist das Fazit eines kürzlich vorgestellten Berichts des Zentrums für Rechts- und Sozialstudien (Centro de Estudios Legales y Sociales, Cels).

Das Cels ist eine renommierte und breit anerkannte Menschenrechtsorganisation, die 1979 – noch unter der letzten Militärdiktatur (1976-1983) – gegründet wurde. Seitdem dokumentiert und klagt sie systematisch die vom Militär begangenen Missbräuche an und gewährt rechtlichen Beistand für Opfer und Angehörige von Entführung, Folter und Mord. Zu den Cels-Gründer:innen gehörte unter anderen der Anwalt und langjährige Vizepräsident der Ständigen Versammlung für Menschenrechte von Buenos Aires, Emilio F. Mignone (1922-1998).

In dem Bericht mit dem Titel "Staatsterrorismus und Erinnerungspolitik, sechs Monate Regierung von Javier Milei" prangert das Cels die Auswirkungen an, die seitens der Regierung durch das gezielte Zusammenspiel von Mittelkürzungen und Entleerung von Strukturen verursacht werden.

Im März etwa wurden 18 Mitarbeiter:innen des nationalen Menschenrechtssekretariats entlassen, die danach unter prekären Bedingungen (mit vierteljährlichen Verträgen) wieder eingestellt wurden. Ganz aufgelöst wurde die Arbeitsgruppe für Archive der Streitkräfte, die grundlegend zur Aufklärung und Beurteilung der vom Militär begangenen Verbrechen gegen die Menschheit beitrug.

Im Justizbereich wurde die audiovisuelle Aufzeichnung von Gerichtsverfahren zu diesen Straftaten abgeschafft sowie das Entschädigungs- und Wiedergutmachungsprinzip ausgesetzt oder abgeschwächt. Hinzu kommt, dass hochrangige Beamt:innen die gerichtliche Aufarbeitung der Übergriffe wiederholt als Belästigung und Demütigung der Streitkräfte sowie die Erinnerungspolitik als Indoktrination bezeichnen.

Zusammenfassend vertritt die Regierung Milei laut Cels "revisionistische und leugnende Positionen gegenüber den von den Streitkräften während der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschheit". Diese Haltung stellt den Grundsatz des "Nunca más“ (Nie wieder) infrage, der seit der Redemokratisierung die gemeinsame Grundlage für den politischen und institutionellen Wiederaufbau war. Diesem Konsens waren alle bisherigen Regierungen und die anderen beiden Staatsgewalten verpflichtet.

Das Cels zeigt sich besorgt über den Schaden, den die Regierungsmaßnahmen auf die Freigabe von Dokumenten und die kritische Untersuchung des Staatsterrorismus inklusive der Verfolgung und Bestrafung der verantwortlichen Militärs, sowie auf die Umwidmung ehemaliger Folterstätten zu Dokumentations- und Erinnerungsräumen ‒wie im Fall des Gebäudes der früheren ESMA (Escuela Superior de Mecánica de la Armada), wo rund 5.000 Menschen ermordet wurden ‒ haben.

Beobachter:innen sehen die Konfrontationen mit der Menschenrechts- und Wahrheitsbewegung als Teil eines geschichtsrevisionistischen "Kulturkampfs" von Mileis Regierung. Angeführt wird dieser von Vizepräsidentin Victoria Villarruel, die seit 20 Jahren leitend in Organisationen aktiv ist, die die an dem früheren Unrechtsregime beteiligten Kräfte verteidigen sowie eine Täter-Opfer Umkehr betreiben. Dabei hat Villaruel – Tochter eines hochrangigen, während der Diktatur im Kampf gegen Guerrillas und im Falklandkrieg aktiven Militärangehörigen – seit Amtsantritt wiederholt auch Anführer:innen von Menschenrechtsorganisationen angegriffen sowie eine "Gegenerinnerung" (contramemoria) für die "Opfer" in Reihen der Militärs gefordert.