Gerade junge Menschen in Peru lernen Quechua immer seltener als Erstsprache. Gleichzeitig identifizieren sie sich stärker als Quechua und finden Vorbilder in andinen Influencer:innen. Auch in den Schulen wird Quechua-Unterricht weiter ausgebaut, doch der Weg zu flächendeckender zweisprachiger Bildung ist noch weit. Lateinamerika Nachrichten berichtet über die Ansätze interkultureller Projekte zur Bewahrung der Indigenen Sprachen Perus
In der kargen Landschaft der peruanischen Anden sitzt eine Gruppe Schüler:innen und hört ihrem Lehrer zu. "Die Regeln des guten Zusammenlebens – welche ist die erste?", fragt er in die Runde. "Der Respekt", antworten die Schüler:innen. "Und zwar gegenüber allen", stellt ihr Lehrer klar, "gegenüber den sabias und sabios, den Weisen der Gemeinschaft, genauso wie der Umwelt. Ihr werdet hier keinen Plastikmüll hinwerfen."
Víctor Manuel Chahuayo Sucñer ist Lehrer für Educación Intercultural Bilingüe (EIB), also zweisprachige interkulturelle Schulbildung im Departamento Apurímac. Mit den Schüler:innen besucht er eine ländliche Quechua-Gemeinschaft, wo sie Interviews mit den Ältesten führen und ihre Lieder und Geschichten dokumentieren. Jedoch ist diese Art von Unterricht noch immer Pionierarbeit.
Die EIB in Peru blickt auf eine schwierige Geschichte zurück, selbst nachdem sie 1993 wieder in der Verfassung verankert wurde. Viele warfen ihr vor, dass sie vor allem der Hispanisierung quechuasprachiger Kinder Vorschub leiste. Nach der Corona-Pandemie startete das Bildungsministerium 2021 eine neue Initiative für den bilingualen Unterricht: Materialien in 41 Indigenen Sprachen wurden an öffentlichen Schulen verteilt, darunter auch in mehreren Quechua-Varianten.
Allerdings ist die Umsetzung nicht so einfach. "Es gibt nicht genug ausgebildete EIB-Lehrkräfte", sagt Víctor Chahuayo. "Manche haben zwar Quechua als Kind gelernt, aber können nicht gut lesen und schreiben und kennen die Grammatik nicht. Deshalb kommen die Bücher oft gar nicht richtig zum Einsatz." Andere Lehrkräfte sind ausgebildet, doch sprechen nicht genügend Quechua.
Auch werden noch immer erbitterte Kämpfe darum ausgefochten, welche Orthografie für unterschiedliche Quechua-Varianten gelten soll. Eigentlich wurde schon 1985 eine Standard-Orthografie für Quechua durch das Bildungsministerium beschlossen. Diese Orthografie steht aber zum Teil in Kontrast zu der (kolonialen) Schrifttradition des Cusco-Quechua.
Der Autor Ángel Ruiz Delgado kritisiert, die Orthografie des Ministeriums würde Schüler:innen veranlassen, ihr Cusco-Quechua anders auszusprechen, als sie es von den Eltern gelernt haben. Es handle sich um ein "Modell aus dem Labor", dessen Anwendung im Süden Perus "am Ende eine Utopie" sei.
Die aktuelle Situation des Quechua in Peru ist insgesamt ambivalent. Der letzte Nationalzensus im Jahr 2017 erfasste, wie viele Peruaner:innen eine der Indigenen Sprachen als Muttersprache sprechen. Im Fall der Quechua-Sprachen zeigte sich ein deutlicher Abwärtstrend in der jungen Generation. In den Jahrgängen von 36 bis 40 Jahren sprachen im Schnitt ca. 65.000 Personen Quechua als Erstsprache. Für die Jüngsten im Alter von drei bis sieben Jahren verzeichnete der Zensus im Schnitt nur etwa 35.200 Sprecher:innen pro Jahrgang − ein dramatischer Einbruch.
Allerdings berücksichtigte der Zensus nicht, dass im Andenraum viele Menschen zweisprachig aufwachsen. Gerade bei den großen Indigenen Sprachen Quechua und Aymara brechen die jungen Generationen ein. Die kleineren Indigenen Sprachen im Amazonasgebiet, z.B. Asháninka und Shipibo Conibo zeigen dagegen eine ausgewogene Altersstruktur, aber haben insgesamt deutlich weniger Sprecher:innen.
Mary Luz Loayza Puga, eine Übersetzerin für Quechua, die mit Lehrkräften an Vorschulen im Hochland zusammenarbeitet, berichtet Ähnliches. Sie bietet den Lehrkräften Hilfestellung, damit diese Quechua in die elementare Schulbildung, zum Beispiel in der Mathematik, integrieren können. Dabei stößt sie öfter auf Widerstände. "Sie sagen mir: Weißt du, Mary, meine Kinder sprechen nur wenig Quechua, das wird nicht funktionieren, das passt nicht zu ihrer Lebensrealität. Meine Hauptaufgabe ist dann, sie dafür zu motivieren." Weiter sagt sie: "Ich habe mich gewundert, warum denn in dieser quechuasprachigen Gegend die Kinder kein Quechua sprechen. Sie sagten, das liegt daran, dass die Eltern hier jung sind, oft etwa 20 Jahre, und sie wollen die Sprache nicht mehr an ihre Kinder weitergeben."
Zugleich lernen mehr Menschen Quechua als Zweitsprache, weiß Claudia Cisneros Ayala, Dozentin für Quechua in Lima: "Noch 2012 wollte fast niemand Quechua lernen. Aber inzwischen haben die Quechua-Zertifikate den gleichen Wert wie die für Englisch, Französisch oder Chinesisch. Und seit es für einige Studiengänge Pflicht ist, Quechua zu lernen, ist auch die Nachfrage stark gestiegen."
Der Zensus von 2017 hat noch einen anderen Trend in der peruanischen Bevölkerung aufgezeigt: Immer mehr Menschen identifizieren sich als Quechua, ohne Quechua zu sprechen. Der Jahrgang der 68-Jährigen war der letzte, in dem Quechua-Sprecher:innen und Personen, die sich aufgrund ihrer Herkunft und Traditionen als Quechua verstehen, mit zirka 34.500 Personen etwa gleichauf waren. Von da an tut sich in den jüngeren Jahrgängen zunehmend eine immense Kluft auf. Die Zwölfjährigen waren der jüngste Jahrgang, der zur Selbstidentifikation befragt wurde, und bei ihnen zählte der Zensus nur 48.001 Quechua-Sprecher:innen, aber 104.251 junge Menschen, die angaben, Quechua zu sein.
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Diese Entwicklung zeigt sich auf regionaler Ebene, in den Departamentos im Andenraum wie Cusco oder Apurímac, aber mit Abstand am deutlichsten in der Hauptstadt Lima. Die Vermutung liegt nahe, dass es in Lima vor allem die Kinder von Migrant:innen aus dem Andenraum sind, die nach Jahrzehnten der Stigmatisierung ihrer Eltern und Großeltern nun ein neues ethnisches Bewusstsein entwickeln.
Junge Vorbilder für dieses neue ethnische Bewusstsein finden sie in den Quechua-Influencer:innen auf den Sozialen Medien: Renata Flores und Liberato Kani etwa produzieren Musik auf Quechua und Spanisch, wobei sie kulturelle Elemente des Andenraums aufgreifen, wie zum Beispiel den Scherentanz aus Ayacucho in Liberatos Titel "Kaykunapi". Soledad Secca ist besser bekannt unter ihrem Quechua-Kosenamen "Solischa". Sie teilt Videos vom Leben in den Anden, vom Treiben auf den Märkten oder von traditionellen Festen.
Die neue Hinwendung zu den andinen Wurzeln zeigt sich auch im Sprachaktivismus junger Menschen in den Städten. So bietet das Kollektiv Quechua para todos (Quechua für alle) aus Lima gratis Quechua-Kurse an, schon seit zehn Jahren und mit steigender Nachfrage. Diese werden vor allem von Angehörigen der städtischen aufstrebenden Mittelschicht besucht, die oft neben Spanisch auch Englisch sprechen und Quechua zur Rückbindung an ihre andine Herkunft lernen wollen.
Im Mainstream-Fernsehen bekommt Quechua in den letzten Jahren zumindest etwas mehr Aufmerksamkeit. Die Nachrichtensendung Ñuqanchik (Wir) wird seit 2016 zweimal täglich auf TV Perú ausgestrahlt. Und seit 2021 läuft die Quizsendung Pukllaspa yachay (Lerne spielend), bei der Teilnehmende im Wettstreit ihre Quechua-Kenntnisse testen. Auch wenn die Kommunikation der Sendung auf Spanisch abläuft, bedeutet sie doch eine massive Aufwertung der Sprache Quechua, denn die Kompetenzen von Quechua-Sprecher:innen werden hier als wertvolles Wissen gefeiert.
In den Schulen zeigt sich besonders, wie wichtig positive Vorbilder für die jungen Sprecher:innen sind. Mary Loayza hat dies bei den Vorschulkindern beobachtet: "Auch in den Gruppen, wo sich die Kinder zuerst geschämt haben Quechua zu sprechen, benutzen sie es nun ganz natürlich. In der ersten Zeit, wenn ich die Kinder begrüßte, antworteten sie alle auf Spanisch oder sie lachten und fragten sich: Was redet die Lehrerin denn da? Jetzt antworten sie auf Quechua und sprechen auch Quechua untereinander."
Für Víctor Chahuayo liegt der Schlüssel darin, dass die Schüler:innen die lokalen Traditionen und das Wissen der Ältesten kennenlernen. Im Jahr 2022 gewannen er und seine damalige Klasse gleich drei Preise für gute Praxis in der EIB, nachdem sie die sogenannten wankas dokumentiert hatten. "Die wankas sind Lieder auf Quechua, die zur Maisaussaat gesungen werden. Diese wurden bisher nur mündlich von den Müttern und Großmüttern an die Kinder weitergegeben. Doch die Schüler:innen schämten sich und hatten Angst vor Diskriminierung und Vorurteilen, deshalb wollten sie die Lieder nicht mehr lernen."
Víctor berichtet, dass ihm daraufhin die Idee kam, zusammen mit seinen Schüler:innen die sabias (die Weisen) zu interviewen. Das Projekt endete mit einer großen Feier zur Maisaussaat zwischen Schüler:innen und Dorfbewohner:innen, die sogar im Fernsehen gezeigt wurde. Die Mädchen, Mütter und Großmütter trugen gemeinsam die wankas vor, einige mit und einige ohne das Liederheft, das die Schüler:innen erarbeitet hatten.
Einige Institutionen setzen auch die neueste Technologie ein, um Quechua zu fördern. Die Universität San Marcos in Lima hat Anfang 2024 Schlagzeilen gemacht, weil sie eine KI entwickelt, die Quechua, Aymara und Awajún spricht. Diese KI mit Namen Illariy präsentiert jetzt Nachrichten auf Quechua in Reels auf TikTok. Ihr Avatar ist eine Frau, die in ihrem Aussehen und ihrer Kleidung mestizisch-andin wirkt.
Dennoch kann Illariy in Authentizität und Sympathie wohl kaum mithalten mit Influencer:innen und engagierten Lehrkräften. "In der Region, wo ich bin, kommt davon absolut nichts an", sagt Mary Loayza. "Das wird entwickelt, aber nicht angemessen zur Verwendung gebracht." Claudia Cisneros hält es dennoch für den richtigen Weg, alle Möglichkeiten zu erproben, wie Quechua erhalten werden kann. "Ich denke, dass Technologien wie Illariy ein breiteres Publikum ansprechen können, besonders die Personen, die viele digitale Inhalte konsumieren."
Langsam aber sicher mehren sich die ernsthaften Versuche, Quechua als Sprache in Peru zu erhalten. Im Juni 2024 veröffentlichte das Parlament einen neuen Gesetzesentwurf, der vorsieht, dass Quechua zum Pflichtfach erhoben werden soll, in den Regionen, wo Quechua zuhause ist.
Der Beitrag ist erschienen in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 607