Chile: Druck auf Landbesetzungen nimmt zu

Wohnungsnot breitet sich im Land weiter aus. Regierung von Gabriel Boric reagiert mit einem Wohnungsbauprogramm und der Räumung irregulärer Siedlungen

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Bereitschaftspolizei am Eingang der Toma 17 de Mayo. Im Hintergrund weisen noch Schilder auf Workshops für Kinder hin
Bereitschaftspolizei am Eingang der Toma 17 de Mayo. Im Hintergrund weisen noch Schilder auf Workshops für Kinder hin

Santiago. Die chilenische Polizei (Carabineros) hat die besetzte Siedlung "Toma 17 de Mayo" am Rand der Hauptstadt Santiago geräumt.

Nach anfänglichem Widerstand gaben die Bewohner:innen auf und brachten ihre Habseligkeiten auf die Straße. Soledad Terán erzählt: "Sie kamen am Morgen mit Tränengas und Wasserwerfern, es war schrecklich, wie sie uns hier angriffen haben". Laut Terán befanden sich noch zahlreiche Kinder auf dem besetzten Grundstück, die durch die Räumung erschreckt wurden.

Die Räumung fand einen Tag vor dem fünften Jahrestag der Besetzung statt. Am 17. Mai 2019 nahmen sich die Besetzer:innen das brachliegende Grundstück am Rand der Hauptstadt, um dort ihre Häuser zu bauen. Etwa 150 Haushalte lebten hier. Strom erhielten sie über angezapfte Leitungen, Wasser durch Tanklastwagen, die regelmäßig Kanister auffüllten.

Die Besitzerin des Grundstücks und eines anliegenden Industrieareals, Maria Guzmán, lehnte von Beginn an das Angebot der Bewohner:innen ab, das Grundstück an sie zu verkaufen und verklagte diese vor Gericht. Das Verfahren ging bis an die höchste Instanz und fiel im Oktober 2023 zugunsten Guzmáns aus. Eine Räumung musste laut Gerichtsurteil bis Ende Mai 2024 vollzogen werden.

In Chile herrscht Wohnungsnot, laut dem Wohnungsbauministerium fehlen im ganzen Land über 550.000 Wohneinheiten.

Während die Regierung im Jahr 2023 ein Notfallprogramm zum Bau von 260.000 Wohnungen bis Anfang 2026 beschloss, leben laut der Nichtregierungsorganisation "Techo" (Dach) über 110.000 Haushalte in irregulären Siedlungen wie der nun geräumten "Toma 17 de Mayo". Das ist die höchste Zahl seit Beginn der Zählung durch "Techo" im Jahr 2001. Besonders betroffen sind Küstenstädte wie Viña del Mar und San Antonio. In der Hafenstadt San Antonio befindet sich seit 2019 die landesweit größte Besetzung von Bauland mit über 20.000 Personen, die ebenfalls von Räumung bedroht sind.

In Bezug auf die "Toma 17 de Mayo" meint Nicolás Daccarett: "Die Räumung ist ein Präzedenzfall im Kampf um das Recht auf Wohnraum". Daccarett gehört der Genossenschaft Kincha an, die die Bewohner:innen in ihrer Arbeit unterstützte. Augrund der Wohnungsnot befürwortet Kincha, dass brachliegende urbane Flächen genutzt werden. "Unsere Forderung war, dass die Regierung das Grundstück enteignet und den Bewohner:innen übergibt", erklärt er.

Zusammen mit den Anwohner:innen hatten sie an über 50 Sitzungen mit Vertreter:innen des Wohnungsbauministeriums teilgenommen, die zu keinem Ergebnis kamen. Für Daccarett kein Zufall: "Es geht ihnen darum die Forderungen der Bewegung ins Nichts laufen zu lassen". Dazu gehöre einerseits die Räumung von Besetzungen, um in der Zukunft weitere zu verhindern, mit gleichzeitiger Aussicht auf eine Sozialwohnung über Wartelisten. Viele Anwärter:innen warten jedoch bis zu zehn Jahre auf solche Wohnungen.

Hinzu kommen extrem steigende Mieten. Laut dem Wohnungsbauministerium haben sich Mietpreise seit 2010 landesweit mehr als verdoppelt, während Löhne nur um 30 Prozent gestiegen sind. Eine Mietwohnung mit 50 Quadratmetern kostet in Santiago derzeit umgerechnet etwa 400 Euro, während der Mindestlohn bei 500 Euro liegt.

Während der Wahlkampagne hatte sich die derzeitige linksreformistische Regierungskoalition noch solidarisch mit der Bewegung der Landbesetzer:innen gezeigt und erklärt, keine Räumung durchzuführen, wenn die Bewohner:innen ansonsten keine Unterkunft hätten.

Im Fall der "Toma 17 de Mayo" versprach die Regierung am Tag der Räumung eine Mietsubvention von umgerechnet 330 Euro über zwölf Monate. Die ehemaligen Bewohner:innen bezeichnen dies als unzureichend und sagen, dass sie bislang keine Zahlung erhalten haben. Viele ehemalige Bewohner:innen mussten die Tage nach der Räumung unter Plastikplanen im Freien verbringen. Dies in einer Zeit, in der sich der Winter auf der Südhalbkugel mit ersten starken Regenfällen bemerkbar machte.

Die chilenische Kammer der Bauunternehmer fordert aufgrund der sich ausbreitenden Landbesetzungen seit längerem eine Neuregelung des Gesetzes zur Räumung von Besetzungen. Das entsprechende Gesetz wurde im August 2023 mit Stimmen von Parlamentarier:innen der Regierung und Opposition angenommen und erlaubt schnellere Räumungen sowie Haftstrafen für Besetzer:innen. Daccaret erklärte dazu: "Die Regierung hat sich auf die Seite der Eigentümer gestellt".

Eine Lösung wäre für ihn die verstärkte Förderung von Baugenossenschaften. Mit mehreren Bewohner:innen der "Toma 17 de Mayo" haben sie daher eine Genossenschaft gegründet und sind nun auf der Suche nach einem passenden Grundstück. Doch Daccaret meint, das Problem sei, "dass viele Preise schlichtweg zu hoch und die entsprechenden staatlichen Subventionen viel zu gering sind".

Die ehemalige Bewohnerin Terán kommt erst einmal bei Verwandten unter, eine langfristige Lösung ist derzeit noch nicht in Sicht.