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Reise auf den Grund der Vierten Transformation in Mexiko

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II über das politische Experiment der Linksregierung, das "Vierte Transformation" genannt wird

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Paco Taibo bei einer Lesung während der Buchmesse in Havanna, Kuba (2022)
Paco Taibo bei einer Lesung während der Buchmesse in Havanna, Kuba (2022)

Die erste Linksregierung in der Geschichte Mexikos steht kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit und wird allen Umfragen zufolge am kommenden Sonntag vom Volk für weitere sechs Jahre bestätigt1. Das einzigartige politische Experiment wird "Vierte Transformation" genannt, und wir sind gekommen, um zu verstehen, was das ist.

In diesem Interview, das in Mexiko-Stadt geführt wurde, bietet uns der berühmte Chilango-Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II, ein kämpferischer Funktionär, eine klare Vision. Aber unter einer Bedingung: Die Kristallkugel ist nur zum Bowling geeignet.

Paco Taibo ist ein genialer Vertreter der "Vierten Transformation (4T)", des von der mexikanischen Linken nach ihrer Machtübernahme vor sechs Jahren vorangetriebenen Veränderungsprozesses. Er hat sich seit dem letzten Jahrhundert mit dem Parteivorsitzenden Andrés Manuel López Obrador (Amlo) verschworen und gehört zu einer Generation, die im Fabeljahr 68 in die Politik hineingeboren wurde. Er hat also die Grausamkeit der Macht gesehen.

Aber Paco ist auch und vor allem ein unersättlicher Schriftsteller. Er veröffentlicht Bücher in dem Tempo, in dem er Zigaretten raucht, eines nach dem anderen, ohne Unterlass. Die Noir-Romane über Héctor Belascoarán sind sein persönliches Markenzeichen, und die Biografien von politischen Schlüsselfiguren wie Che Guevara und Pancho Villa waren wahre publizistische Kassenschlager.

Damit nicht genug, war Taibo schon immer ein konsequenter Kulturaktivist. Ein obsessiver Förderer der Lektüre für das einfache Volk. Ein Extremist mit Tinte und Papier. Deshalb ist die Arbeit an der Spitze der Generaldirektion des Fondo de Cultura Económica (FCE), des geschichtsträchtigen öffentlichen Verlags, der bald sein 90-jähriges Bestehen feiert, für ihn, wie den Himmel im Sturm einzunehmen. An einem warmen Frühlingsnachmittag empfängt er uns direkt vor der Tür des Verlagsgebäudes im Zentrum von Mexiko-Stadt an kleinen, auf dem Bürgersteig aufgestellten Tischchen.

Um ruhig zu beginnen, haben wir ihn gebeten, eine Bilanz der ersten sechs Jahre der Regierung der Partei Morena zu ziehen:

"Man verlangt immer mehr, als das Leben einem geben kann, und der Durchbruch des 4T im Jahr 2018 war gefüllt mit Illusionen. Wir brauchten Zeit, um zu entdecken, dass wir einen sehr verrotteten, sehr ineffizienten Apparat erbten, voller Regeln, Blockaden, Systeme. Und dass es die eine Sache war, in der Bundesregierung zu sitzen, und eine ganz andere, auch die Macht zu haben. Die Hindernisse waren überall, sie sind auf ätzender Art und Weise aufgetaucht. Am schlimmsten waren Teile der Justiz, der weiterhin zum Verkauf steht.

Dennoch kann man nicht umhin zu sagen und anzuerkennen, dass das Management dieser Regierung in einigen Bereichen sehr positiv war. Die Sozialausgaben, die mit Händen und Füßen verteidigt wurden, haben dazu geführt, dass die Gelder der öffentlichen Verwaltung in erheblichem Umfang in andere Bereiche fließen. Man spricht von Tausenden von Stipendien für junge Menschen. Wenn man genauer hinschaut, was dahintersteckt, stellt man fest, dass die Schulabbrecherquote um 30 Prozent gesunken ist.

Und die einzige Antwort auf die Frage, warum dies so ist, ist, dass diese Stipendien es den jungen Menschen ermöglichten, über Geld für den Transport und das tägliche Essen zu verfügen. Dadurch konnten sie ihre Sekundar- oder Hochschulbildung weiterführen und mussten diese nicht aus finanziellen Gründen abbrechen.

Was die großen Infrastrukturen anbelangt, so halten wir sie alle für äußerst ehrgeizig: den Transoceánico, den Tren Maya, die neuen Raffinerien, das Staudamm-Netz. Aber zusammen mit allen Mexikanern fragen wir uns auch, wann sie ihre Arbeit aufnehmen werden. Wann werden die Raffinerien Benzin liefern, wann wird der Maya-Zug Produkte aus den Gemeinden und nicht nur Touristen bringen, wann wird der gewerblich-industrielle Entwicklungspol im Südosten die konfliktreiche Situation in Panama entspannen?

Auf der anderen Seite gibt es eine grundlegende, brutale Veränderung im Bewusstsein der Bevölkerung, unten, verwurzelt in der Gesellschaft. Andrés hat sich allen Widrigkeiten zum Trotz im direkten Diskurs behauptet. Und zwar durch vielfältige Angebote, wie Besuche an vielen Orten, Morgenmatineen, diese Form des direkten Dialogs mit dem Volk. Und er stellt ein weltweit einzigartiges Phänomen dar, denn jedes Regierungsprojekt hat historisch gesehen einen Abnutzungsanteil: Man regiert fünf Jahre lang und verliert 20 Prozent Zustimmung oder 30.

Hier hält sich Andrés bei seinen 60 Prozentpunkten, zur Überraschung, zum Ärger der Rechten, die nicht verstehen kann, wie um alles in der Welt er diese gesellschaftliche Beliebtheit aufrechterhalten kann. Aber er hat sich auch konsequent der Wiederwahl verweigert: 'Nein, ich gehe nach Hause'.

Und der Sieg in den Vorwahlen von Claudia [Sheinbaum], die für meinen Geschmack dem linken Flügel der 4T angehört, öffnet eine Tür der Kontinuität, die sich sofort dem Problem der bürokratischen Vereinfachung der Verwaltung stellen muss, und zwar so, dass es von den Worten zu den Taten geht. Man beginnt, die tiefe Logik der PRI- und PAN-Regierungen an der Macht zu entdecken, die Anzahl der Schritte oder Vermittlungen, die man für jedes Verfahren im Staatsapparat durchlaufen musste. Denn wenn alles schwierig ist, ist die Korruption das Öl des Systems. Kurz gesagt, ich würde sagen, dass wir im Großen und Ganzen die Schlacht gewonnen haben und die Wahlen gewinnen werden."

Der Präsident sagt in seinem kürzlich erschienenen Buch 'Gracias', dass das Ziel darin bestehe, ein post-neoliberales Land aufzubauen. Sind in dieser sechsjährigen Amtszeit Fortschritte erzielt worden, haben wir die Hälfte des Weges geschafft, sind die wichtigsten Grundlagen gelegt worden?

Ich hatte eine Kristallkugel, aber ich habe sie neulich zum Bowling benutzt. Nerven Sie mich nicht mit den Prognosen. Als wir vor sechs Jahren den Staat übernahmen, hatte ich keine Ahnung, wie schlimm die tägliche Unterdrückung durch diesen Apparat war. Wir hatten keine Ahnung, wo das Geld aus der Korruption war, denn dieses ging in erster Linie in den öffentlichen Bau: Man baute eine Straße und statt acht kostet sie 14, aber dieses Geld war nicht da. Es war verborgen. Oder, wie sich deutlich gezeigt hat, es verbarg sich in den nicht gezahlten Steuern der Oligarchie.

Es ist uns gelungen, einen Teil dieser Millionen Pesos im öffentlichen Bau zu retten, aber das Geld, das durch Korruption entgangen ist, ist nun weg. Und diese Oligarchie hat sich, während die Parteien sich zerstörten, in die Medien zurückgezogen: Hunderte von Zeitungen, Tausende von Radiosendern und Dutzende von Fernsehgeräten. Die konservativsten Sektoren dieser Gesellschaft halten sich so den Rücken frei.

Weckt Claudias Regierung Erwartungen?

Erstens wird der Sieg klar sein. Dann müssen wir eine Politik der Vereinfachung der Verwaltung umsetzen, die es ermöglicht, dass die Projekte viel stärker an die Bevölkerung herangetragen werden. Das wird spannend, denn es stellt einen vor sehr komplizierte Herausforderungen. Zum Beispiel ist das Ungleichgewicht zwischen öffentlicher und privater Kommunikation mörderisch. 90 Prozent der Kommunikationsmedien sind privat. Das ist eine der Prioritäten. Es ist unbedingt notwendig, qualitativ hochwertige, vom privaten Sektor und seinen Mafias unabhängige Fernseh- und Rundfunkangebote wiederaufzubauen und bereit zu stellen.

Hat der Mentalitätswandel in der Bevölkerung mit Amlo als Galionsfigur zu tun oder gibt es einen eher strategischen Ansatz?

Die Figur von Andrés ist ein Fakt, aber das 4T-Phänomen ist auch ein anderer Fakt. Claudia wird wahrscheinlich ein Land erben, das leichter zu regieren ist als das, das Andrés geerbt hat. Denn auf staatlicher Ebene hat man bereits herausgefunden, wer die Feinde sind.

Aber es ist harte Arbeit, wenn man mittel- und langfristige Politiken vorschlägt. Wenn Andrés zum Beispiel sagt, dass der einzige Weg, den Drogenhandel zu bekämpfen, darin besteht, dass die Jugendlichen aufhören, den Gangster mit der Goldkette um den Hals zu bewundern, und stattdessen den Sinn für ihr Leben in Bildung, Gesundheit, Sport und Kultur zu finden. Verdammt noch mal, da schlägt man etwas sehr Langfristiges vor.

Es ist ein kulturelles Problem in einer Gesellschaft, die von den privaten Medien aus den Erfolg derjenigen beklatscht, die mit einer Goldkette herumlaufen.

Richtig ist auch dass das Versprechen des nationalen-staatlichen Projekts bezüglich einer Inklusion und eines sozialen Aufstiegs für die Mehrheit der Bevölkerung nicht gilt.

Ich weiß nicht. Wenn man sich so, wie ich, in den Tiefen dieser Gesellschaft bewegt, denn die Arbeit, die der Fondo de Cultura leistet, ist absolut bodenständig, wir berühren die Gesellschaft überall, wir sprechen mit den Leuten, Buchmessen, Leseclubs, wir sind sehr weit in der sozialen Basis verstreut. Das erste, was man dann entdeckt, ist, dass der große Erfolg der 4T darin besteht, dass die Sozialprogramme Perspektiven für den sozialen Aufstieg geschaffen haben.

Diese erworbenen sozialen Rechte wirken als Zusatzeinnahmen, die es dem kleinen Unternehmen die Expansion, das Wachsen ermöglichen. Es wirkt unten, und muss noch weiterwirken. Diejenigen, die das Leben in den Seegebieten pflanzen, sollten anfangen, Genossenschaften zu gründen, um den von ihnen erzeugten Fisch zu vermarkten. Der erste Teil ist bereits erreicht: In diesen Gemeinden ist die Proteinnahrung beträchtlich gewachsen, aber jetzt brauchen wir "diejenigen jenseits davon".

Bücher für das Volk

Paco Taibo hat den FCE komplett umgekrempelt. Er transformierte ihn in einen Volksverlag, gab ihm eine Kommunikationskraft, die er vorher nicht hatte, und stattete ihn mit einem utopischen Horizont aus, der darin besteht, eine soziale Basisbewegung zu werden. Zu den Erfolgen, die ihn begeistern, gehört das Wachstum der Anzahl der Niederlassungen im Ausland, insbesondere in Argentinien. Und er denkt nicht daran, damit aufzuhören, wie sein Freund El Peje. Seine Ernennung wurde bereits um fünf weitere Jahre verlängert, so dass er den Fonds als Achtzigjähriger verlassen wird.

Können Sie uns etwas über Ihre Arbeit im Fondo de Cultura Económica erzählen?

Wir sind von drei Zielen ausgegangen: Erstens, den Preis von Büchern zu senken, da sich die Menschen sie sonst nicht leisten könnten. Also haben wir Sammlungen wie Popular und Vientos del Pueblo.

Und all dies dank einer Mittelaufstockung des Fonds?

Nein, wir haben es sogar mit weniger Geld geschafft. Es ist ein Thema der Rationalisierung der Ressourcen und der Schwerpunktänderung: billigere Bücher, niedrigschwelliger Vertrieb, Vertrieb in jeden Winkel des Landes, in dem es potenzielle Leser gibt, Leseclubs und Leseräume, um die Bewegung der Basisorganisationen zu fördern. Dadurch konnte der Fonds in Bezug auf seine gesellschaftliche Wirkung enorm wachsen. Als ich ankam, war der Fonds eine Einrichtung, die Bücher herausgab, die man als Wirtschaftsstudent unbedingt lesen musste. Jetzt ist er zu einem Bereich des sozialen Ansehens geworden. Man kennt ihn in Pochutla, in Oaxaca und in den Bergen von Durango, weil wir dort gewesen sind.

Sie setzen sich seit Langem für die Leseförderung an der Basis ein. Ist dieser Kampf gewonnen oder wird er angesichts der veränderten Mentalität der heutigen Welt immer schwieriger?

Er macht immer mehr Spaß, wird immer positiver, wächst immer mehr. Jeden Tag treffen wir Menschen aus verschiedenen Leseclubs, Menschen, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört habe, und das, obwohl ich durch das ganze Land gereist bin. Man schafft wirklich soziale Verwurzelung, wir erhöhen den Anteil der Lesenden in diesem Land. Und Lesen ist Demokratie. Mexikaner, die lesen, sind klüger als Mexikaner, die nicht lesen, daran gibt es keinen Zweifel.

Wie sieht dieser Vorschlag aus, über die Leseclubs eine soziale Bewegung zu schaffen?

Als wir ankamen, gab es einen Stützpunkt, dies waren die Lesesäle. Es gab einen Mediator, dessen Aufgabe die Leseförderung war. Wir haben dem eine Form gegeben, wir haben telefonisch und live mit allen Mediatoren im Land gesprochen und wir haben eine einfachere Mission ins Leben gerufen, nämlich die Leseclubs: Acht Leute organisieren sich selbst und erhalten drei Tage lang eine Online-Schulung, wie man sich organisiert, wie die Bücher verschickt werden und zu ihnen kommen, wie man festlegt, welche Bücher funktionieren könnten und welche nicht, wie man die Lesebedürfnisse der eigenen Gemeinschaft erkennt.

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"Bücher für das Volk"
"Bücher für das Volk"

Dann erhalten sie einen Grundstock, den der Fonds verschenkt, wir haben schon Millionen von Büchern verschenkt. Sie taufen den Club auf einen Namen ihrer Wahl und los geht’s. Und dann vernetzen wir die Clubs miteinander, so dass das Wissen über die verschieden Formen der Leseclubs gemeinschaftliches Wissen ist: Clubs, die mit Marionetten arbeiten; Clubs, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten; Clubs, die mit frühkindlicher Erziehung arbeiten, also mit den Kindern, die in die Bücher reinbeißen; es ist ein großes Netzwerk von derzeit 16.000 Clubs.

Machen alle, die mitmachen, das freiwillig?

Ja, alle. Denn wenn wir anfangen, Gehälter zu verteilen, pervertieren wir das System. Und wir bürokratisieren es.

Nach oben ausspucken

Vor dreizehn Jahren haben wir Paco zum ersten Mal interviewt. Damals fragten wir ihn: "Wie geht es Mexiko? "Es steckt tief in der Scheiße", antwortete er. Und er blickte mit einem gewissen Neid in den Süden, wo sich die progressiven Regierungen vermehrten: "Mexiko und Kolumbien sind wie die hässlichen Entlein in diesem Film. Wir Mexikaner haben eine sehr starke Tendenz, uns in uns einzuschließen. Ich weiß nicht, ob das ein kulturelles Phänomen ist, oder etwas Historisches, oder die besondere Geopolitik, in die wir eingebettet sind, oder die Intensität, mit der wir leben. Aber es gibt eine Art Autismus in Bezug auf das übrige Lateinamerika."

Heute hat sich das Blatt gewendet, aber alles scheint darauf hinzudeuten, dass Zapatas Land weiterhin eher nach Norden als nach Süden blickt. Obwohl Paco klarstellt: "Zu Beginn dieser sechsjährigen Amtszeit sah Andrés sehr wenig in Richtung Lateinamerika, er war besessen davon, die nordamerikanische Präsenz und den Druck unter Kontrolle zu bringen. Am Ende dieser sechsjährigen Amtszeit hat er eine viel mehr lateinamerikanische Perspektive als zuvor, es gab Zusammenstöße und Umarmungen, es gab alles. Ich glaube, das wird sich mit Claudia noch weiterentwickeln.

Das Problem liegt jedoch tiefer: "Wir haben noch keine gemeinsame kulturelle Basis gefunden, und das ist einer der Schlüssel", sagt Taibo. "Denn in Gesellschaften, die durch den Darién Gap getrennt sind, und durch den Fakt, dass Argentinier gleiche Worte anders aussprechen als wir, müssen wir Kommunikationsbrücken schaffen.

Die große Brücke der 1960er Jahre wurde zunächst durch die kubanische Revolution beeinflusst, dann durch eine Kombination aus sehr starken Verlagsunternehmen wie den mexikanischen, argentinischen, kubanischen, dem Fall des Franco-Regimes in Spanien, der Trova, dem Lied, dem Film. Diese große Welle ist abgeebbt, der Neoliberalismus hat sie geschluckt, und alles wurde wieder zu Markt und Geschäft. Und jetzt kommt es langsam zurück. Es ist schwer für uns, ein in Argentinien veröffentlichtes Buch erfolgreich in Mexiko zu vertreiben, weil man dann immer erklären muss, wer das ist und woher das Buch kommt."

Mit anderen Worten: Die kulturellen Strömungen, die seinerzeit den gesamten Kontinent durchzogen, wurden beseitigt.

Heute ist der gute Wille vorhanden.

Was die US-Wahlen in diesem Jahr betrifft: Wer sollte im Interesse der 4T gewinnen?

Mir ist das total egal, ich habe keinen Einfluss. Obwohl wir versuchen, lateinamerikanische Leser, die in den USA leben, mit unseren Büchern zu erreichen. Der Plan für das nächste Jahr ist, 200 Leseclubs in 200 Städten in den USA zu gründen, und zwar ohne Vorurteile gegenüber dem Mexikanismus. Die Idee ist, Leser auf Spanisch zu erreichen, ich habe kein Problem mit Argentiniern in New York und Menschen aus Puebla in Chicago, und ich habe kein Problem mit Kolumbianern in Tennessee.

Ich weiß nicht, ob Sie den Vorschlag der Ultrarechten für eine Iberosphäre auf der Grundlage der gemeinsamen Sprache gesehen haben, die es Spanien ermöglichen würde, einen Einflussbereich zurückzugewinnen.

Mein Vater sagte mit großer Weisheit: Es gibt einen Ozean, der uns verbindet, und eine Sprache, die uns trennt, und zwar so, dass man in Mexiko zu einem Bürgersteig 'banqueta' sagt, während der Bürgersteig in Spanien 'acera' heißt. Und der Aufzug wird zum Fahrstuhl. Ich glaube, dass das spanische imperiale Denken nur dann eine Chance hat, wiederbelebt zu werden, wenn wir bereit sind, es uns zu eigen zu machen. Und in Mexiko ist das unmöglich. Wenn Hernán Cortés spazieren geht, verbrennen ihm die Füße , um Cuauhtémoc zu rächen. Sie haben keine Fähigkeit zur historischen Aufarbeitung, der spanische imperiale Ruhm ist in Mexiko für nichts zu gebrauchen. Die Iberosphäre? Lass' mich damit bloß in Ruhe!

Sehen Sie in der heutigen lateinamerikanischen Literatur eine gewisse Vitalität?

Ich lese, was ich kann, von Zeit zu Zeit findet man interessante Dinge, aber ich fühle den Puls nicht. Außerdem gibt es ein Generationenproblem: Es fällt mir schwer, einen jungen Mann in den Zwanzigern in Uruguay zu lesen, der Talent hat. Denn wo zum Teufel finde ich ihn, wie lese ich ihn, wie erreicht er mich, ist er im Einklang mit mir oder ist seine Literatur zu cool, als dass ich mich darauf einlassen könnte? Es gibt zu viele Anhaltspunkte, mit denen ich nicht umgehen kann, es fällt mir schwer, zwischen einem angesagten Rocksänger und der Mutter von Elvis Presley zu unterscheiden. Meine kulturellen Parameter sind auf grausame Weise gealtert.

In Ihrem neuesten Buch taucht eine Figur wieder auf, die für Sie ein ständiges Thema ist: Rodolfo Walsh.

Er ist eine der Lieben meines Lebens, eine Obsession. Wenn ich neben Walsh sitze, lache ich ihn aus: Du Spinner, der Weg war nicht nur, Guerillero zu werden, du musstest weiter 'Esa mujer' und 'Ese hombre' schreiben. Man sollte die Literatur nicht vernachlässigen, denn es gibt so etwas wie das 'Así se templó el acero'-Syndrom, denn 'die Partei verlangt von mir, dass ich aufhöre, Gedichte zu schreiben'. Nein. Dickschädel, die Partei verlangt von Dir, menschlicher denn je zu sein. Meine Beziehung zu Walsh ist eine Beziehung der tiefen Liebe und Zuneigung, der Neugier, des Respekts, die über viele Jahre hinweg entstanden ist, nachdem ich sein gesamtes Werk gelesen und den Dokumentarfilm gemacht habe, der sehr gut geworden ist und voller Emotionen steckt. Aber ich habe diese Debatte mit ihm: der Brief an die Tochter ist sehr schön und gut, aber er hatte eine Geschichte geschrieben, und ich mache mir Sorgen darüber, wo diese Geschichte verdammt nochmal geblieben ist.

Ist das nicht auch ein bisschen wie die Trance, in der Sie sich jetzt befinden, so sehr in die Politik involviert?

Nein, denn ich habe gerade ein Buch beendet und schreibe gerade ein weiteres. Das letzte heißt Los alegres muchachos de la lucha de clases, es ist ein Generationenlied, das besagt, dass ein Linker zu sein nicht nur aufregend ist, dass es nicht nur bedeutet, dass man auf der guten Seite der Gesellschaft, in der man lebt, steht, sondern dass es auch viel Spaß macht, verdammt.

  • 1. Das Interview wurde am 30. Mai geführt. Die Morena-Kandidatin Claudia Sheinbaum gewann die Präsidentschaftswahl am 2. Juni mit 59 Prozent der Stimmen